Deutschland und seine Ostgebiete

Vortrag von Prof. Dr. Hellmut Diwald, Würzburg, aus Anlaß der 40 – jährigen Gedenkveranstaltung der Gründung der Landsmannschaft Schlesien, Kreisgruppe Bonn am 20.04.1991 in Bonn, Hotel Residence

Gedenkstunden von der Art, wie sie hier und heute von uns begangen werden, sind in der Regel auch Feierstunden. Deshalb verbindet sich mit ihnen auch ein gewisser Anspruch auf einen stolzen Rückblick – wenigstens ein Mindestmaß davon – auf eine Bilanz der erfreulichen Leistungen, die im Lauf der Jahrzehnte vollbracht worden sind. Würde man die Arbeit und das Wirken der Kreisgruppe Bonn der „Landsmannschaft Schlesien“ seit ihrer Gründung vor 40 Jahren, am 18. Apr 1951, für sich allein betrachten, dann wäre es leicht, an dieser Gedenkstunde als an einem würdigen, ja als an einem stolzen Ereignis teilzunehmen. Gewissermaßen zufrieden im Glanz des Geleisteten zurückgelehnt, die Atmosphäre in diesem eindrucksvollen Saal genießend und sich mehr oder weniger sichtbar gegenseitig die Schultern klopfend.

Es gibt keinen Zweifel daran, daß ein wohlbegründetes Recht dazu bestehen würde, die heutige Gedenkveranstaltung auf diese Weise zu begehen und auch meine eigene Rede dementsprechend auszurichten. Zu einem Gutteil wird selbstverständlich von der Bedeutung der Arbeit der „Landsmannschaft Schlesien“ zu sprechen sein, nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Wirken sämtlicher Landsmannschaften der Vertriebenen. In einem weiteren Sinn steht freilich das Schicksal der vertriebenen deutschen Volksgruppen im Zentrum dieser Bilanz, zu der wir das Recht haben und ebenso die Pflicht, selbst wenn das Gesamtergebnis beträchtlich hinter den Erwartungen zurückbleibt, welche die Vertriebenen nicht nur hatten, sondern auch haben durften. Denn gerade das wurde ihnen mehr als einmal offiziell bescheinigt. Uns ist mit bitterster Schärfe bewußt, daß statt eines Jubiläumsjubels tiefe Resignation und Enttäuschung am Platz zu sein scheint. Ich formuliere das hoffentlich behutsam genug und mit allen Vorbehalten, denn die Enttäuschung über die Art, wie auf die deutschen Ostgebiete offiziell verzichtet wurde, rechtfertigt keine Resignation, sondern verlangt das Gegenteil.

Auf jeden Fall aber herrscht bei uns Vertriebenen eine völlig andere Grundstimmung, als es noch vor wenigen Jahren der Fall war. Wer dies nicht wahrhaben will, lügt sich selbst etwas vor. Wer den großen Rahmen der letzten vier Jahrzehnte und die Gesamtlage der Vertriebenen samt dem territorialen Status ihrer Heimatgebiete nach der Zusammenführung West- und Mitteldeutschlands und den Verzicht der Bundesregierung auf die deutschen Ostgebiete zu einer politisch erledigten Sache erklärt, der stuft die Schlesier, Ostpreußen, Sudetendeutschen und die Arbeit ihrer Landsmannschaften herab zu ebenso beliebigen wie farbenfrohen Trachten- und Gesangvereinen, zu exotischer Folklore. Dies aber, meine Damen und Herren, würde die Dinge auf den Kopf stellen, ja nicht nur das, es würde wieder einmal der Heuchelei, dem politischen Als-ob, der Doppelzüngigkeit und der glatten Lüge Vorschub leisten. Seit dem Aufstand unserer Landsleute in der ehemaligen DDR, seit dem 9. Nov 1989 und ebenso seit dem 3. Oktober 1990 hat sich in Deutschland und Europa mehr ereignet, als wir zur Zeit in der Lage sind, abzuschätzen. Es fällt schwer, das ganze Ausmaß der Veränderungen zu begreifen und die Konsequenzen für uns Deutsche und für die neue Situation in Europa zu beurteilen. Die beiden Daten, die ich genannt habe – also der Fall der Berliner Mauer am 9. Nov 1989 und der Zusammenschluß West- und Mitteldeutschlands am 3. Oktober 1990 – unterscheiden sich allerdings elemental voneinander.

Das erste Datum war ein Tag des Triumphes, der hemmungslosen Freude, des Jubels und eines Überschwangs, der sich tausendfach nicht anders hat Ausdruck verschaffen können als in Tränen. Am 9. Nov 1989 haben selbst Leute vor Freude geweint, denen jahrelang das Wort „Deutschland“ nicht über die Lippen gekommen ist. Ganz anders dagegen der 3. Oktober 1990, der als Tag der Wiedervereinigung, der Wiederherstellung Deutschlands ausgegeben wird.

War er das tatsächlich?

Hat es sich um jenes Deutschland gehandelt, von dem das Bonner Grundgesetz spricht?

Jenes Deutschland, über dessen Status mehrfache Urteile des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe vorliegen?

Davon kann keine Rede sein. Von den verantwortlichen Politikern, die an den Zwei-plus- vier-Gesprächen des Jahres 1990 beteiligt waren und dieser Regelung zugestimmt haben, ist mehrfach und in unterschiedlicher Offenheit angedeutet worden, daß ihnen keine andere Wahl geblieben sei, als sich den Vorschlägen der Sieger von 1945 zu beugen. Die Amerikaner, Russen, Engländer und Franzosen hätten sich auf die Anerkennung der Oder-Neiße- Grenze festgelegt; das wäre nicht zu ändern gewesen. Um es in aller Kürze auszudrücken: Das Problem läuft darauf hinaus, daß die Sieger von 1945 der Vereinigung West- und Mitteldeutschlands nicht zugestimmt, sie also nicht erlaubt hätten, wenn die Bundesregierung und die Regierungsvertreter der damals noch bestehenden DDR nicht bereit gewesen wären, auf die deutschen Gebiete im Osten zu verzichten und sie Polen und Rußland zu überlassen. Bundeskanzler Kohl hatte schon auf dem Landesparteitag der Schleswig- Holsteinischen CDU in Neumünster im Juni 1990, also noch vor der unterzeichneten Vereinbarung nach den Zwei-plus-vier-Gesprächen, festgestellt: Ost und West würden einhellig die völkerrechtliche Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze verlangen, und zwar als Voraussetzung für die deutsche Einheit. Ebenso bezeichnete Finanzminister Theo Waigel wörtlich die „Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als bitteren Preis für die deutsche Einheit“. Der Fraktionsvorsitzende Alfred Dregger erklärte auf eine Frage, ob das Junktim: Einigung gegen Abtretung der Ostgebiete nicht eine glatte Erpressung gewesen sei, mit entwaffnender Knappheit:

„Eine Erpressung, jawohl, aber in der Politik ist das so!“.

Herr Dr. Dregger mag damit etwas Zutreffendes gesagt haben. Aber nicht weniger zu Recht besteht die Frage, ob das in der Politik, vor allem in diesem Fall, wirklich hat so sein müssen. Denn was von erpreßten Verträgen zu halten ist, darauf gibt das geltende Völkerrecht eine unmißverständliche Antwort: Solche Verträge sind nach der „Wiener Vertragsrechts-Konvention“ vom 23. Mai 1969, Artikel 52 bzw. 53 von vornherein nichtig. Besonders bewegende Worte der Rechtfertigung dieses Handelsgeschäfts Anerkennung der Oder-Neiße-Linie gegen Vereinigung West- und Mitteldeutschlands, hat Günter Diehl, der ehemalige Chef des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung gefunden. Er meinte:

„Wir haben uns entschieden. Der Verzicht auf die deutschen Ostgebiete hat seine Bedeutung und seinen Sinn, weil er als Opfer auf dem Altar der deutschen Einheit und als Morgengabe für die europäische Friedensordnung dargebracht wird.“

Streichen wir einmal das Pathos: Schon seit der Zeit der sozialliberalen Koalition in den 70er Jahren haben die USA, England und Frankreich, die als NATO-Partner von uns als westliche Freunde bezeichnet worden sind, die Linie der polnischen und russischen Politik in der Grenzfrage eingeschlagen. Sie haben ständig darauf gedrängt, und zwar „entgegen früheren Absprachen“, noch vor der Möglichkeit des Abschlusses eines Friedensvertrages vorab den Anspruch und das Recht auf die Ostgebiete aufzugeben. Das aber heißt mit nüchternen Worten: Auf die deutschen Politiker wurde Druck ausgeübt, und sie haben sich schließlich diesem Druck gebeugt. Später nachgeschobene Behauptungen, wie sie etwa Außenminister Genscher im Nov 1990 in Warschau getan hat, daß es sich bei der Abtretung der Ostgebiete um eine „freiwillige deutsche Entscheidung“ gehandelt habe, die Deutschland nicht aufgezwungen worden sei, widersprechen vollständig den wiederholten Hinweisen, daß es sich um ein Tauschgeschäft im Zeichen der Nötigung, der Erpressung gehandelt hat. Noch ein Wort, um die schöne Bemerkung Herrn Diehls von dem „Opfer auf dem Altar der deutschen Einheit“ in die richtige Perspektive zu rücken:

Haben die Bonner Politiker dieses Opfer gebracht?

Oder haben sie es den wirklich Betroffenen, den Vertriebenen, einfach auferlegt?

Wer von diesen Politikern wurde mit seiner Familie aus der Heimat vertrieben?

Man fragt sich zu Recht, welches Maß an politisch-sittlicher Größe dazu gehört, das Opfer, das man anderen ungefragt auferlegt, als eigenes Opfer auszugeben. Um dann auch noch zu beteuern, wie sehr man unter einem solchen Opfer leiden würde. Sehen wir einmal von der kaum kaschierten Heuchelei solcher Beteuerungen ab: Niemand kann daran zweifeln, daß sich unsere Politiker zum Verzicht auf die Ostgebiete haben nötigen lassen. Sie sind erpreßt worden, sie haben sich erpressen lassen. Noch haben wir keinen Zugang zu den Protokollen der Zwei-plus-vier-Gespräche.

Doch sobald dies der Fall ist, wird sich diese Tatsache dokumentieren lassen. Verträge aber, zu deren Unterzeichnung einer der Vertragspartner genötigt wurde oder die den Grundsätzen des allgemeinen Völkerrechts widersprechen, sind, wie schon gesagt, von vornherein nichtig. Ich möchte dazu eine Stellungnahme von Professor Blumenwitz, dem general bekannten Völkerrechtler, zitieren. Dieter Blumenwitz schreibt, in der neutral-harten Sprache des Juristen:

„Die Konstruktion eines Junktims zwischen staatlicher Einigung in den Grenzen von Bundesrepublik/DDR und Verzicht auf die Ostgebiete hat völkerrechtliche Konsequenzen. Es stellt sich die Frage, ob die Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes des deutschen Volkes und die Grenzregelungen noch „frei“ sind im Sinn des Art. 7 des Deutschlandsvertrages und des allgemeinen Völkerrechts. Die Ausübung von politischem Zwang, aber auch der bloße Verstoß gegen zwingende Normen des Völkerrechts können zur Nichtigkeit vertraglicher Regelungen führen. Im modernen Völkerrecht ist mehrfach der Standpunkt vertreten worden, daß Verträge mit einem Staat über Gegenstände, die seiner unmittelbaren freien Verfügung entzogen sind, nicht „frei“ vereinbart werden können. Dies ist die Argumentation vieler entkolonialisierter Staaten, – die im Stadium beschränkter völkerrechtlicher Handlungsfähigkeit vertragliche Vereinbarungen eingehen mußten, um die Unabhängigkeit zu erlangen. – Dies war die Haltung der Bundesregierung hinsichtlich der Ostgebiete in den 50er Jahren unter der Herrschaft der (uneingeschränkten) Identitätstheorie.“

Soweit also der Völkerrechtler Dieter Blumenwitz zu dem Handel: Einigung gegen Ostgebiete. An der erwähnten Identitätsthese hält auch unser höchstes Gericht in Karlsruhe fest: daß nämlich das Deutsche Reich trotz der militärischen Kapitulation 1945 im Sinne des Völkerrechts weiterbestanden hat und die alte Bundesrepublik, sowie das seit 1990 teilvereinte Deutschland rechtlich identisch sind mit dem „Deutschen Reich“, das im 19. Jahrhundert entstanden ist. Was sollen wir im übrigen von Politikern halten, die sich dazu erpressen lassen, auf fast ein Drittel des territorialen Siedlungsraumes der Deutschen in Europa zu verzichten und nicht einmal ein Wort darüber öffentlich verlieren und dagegen protestieren, daß es sich um eine Erpressung gehandelt hat?

Zusammen mit dem Sudetenland geht es hier um 148.000 Quadratkilometer Heimatboden. Das entspricht 60 Prozent der Fläche der Bundesrepublik oder der Länder Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz. Dieser Heimatboden war seit vielen Jahrhunderten von Deutschen besiedelt. Man sollte sich immer wieder einmal eine historische Landkarte mit den entsprechenden Grenzen ansehen, um zu begreifen und zu realisieren, worum es bei dem Verzicht auf die deutschen Ostgebiete geht – unabhängig von den Empfindungen, die einen dabei überkommen. Wenn die Vereinigung von West- und Mitteldeutschland auf der einen Waagschale lag und auf der anderen die Ostgebiete, dann ist der vereinbarte Zwei-plus-vier-Vertrag das Produkt einer noch eklatanteren Erpressung, als es das Versailler Diktat des Jahres 1919 gewesen ist.

Gegen die Versailler Regelung wurde von der damaligen deutschen Regierung und wurde von allen Parteien der Weimarer Republik, einschließlich der Kommunisten, leidenschaftlich protestiert. Die amtierende Regierung des Sozialdemokraten Philipp Scheidemann trat zurück, weil sie die Unterschrift verweigerte. Die Nachfolger unterschrieben zwar, aber unter vehementem Protest. Sie beugten sich dem Ultimatum, weil sie nicht riskieren wollten, daß die alliierten Truppen in Deutschland einmarschierten, so wie es dann später im Ruhrgebiet der Fall war. Im Gegensatz dazu unterschrieben unsere verantwortlichen Politiker im Jahre 1990 ohne Protest und Rechtswahrung, ohne Widerspruch.

Sie verzichteten auf die deutschen Ostgebiete, auf Gebiete, die nach geltendem Völkerrecht Teile des noch immer existierenden, wenn auch nicht handlungsfähigen Souveräns „Deutsches Reich“ sind. Sie besaßen auch noch die Stirn, uns dieses Geschäft als einen Triumph ihrer politischen Fähigkeiten anzudienen, dem kaum genügend Weihrauch gespendet werden könne. Nun ließe sich allerdings auch fragen:

Wenn tatsächlich die Zusammenführung West- und Mitteldeutschlands nur bei Verzicht auf die deutschen Ostgebiete möglich gewesen sein sollte, wenn also zwischen zwei Übeln gewählt werden mußte – war dann die kleine Wiedervereinigung nicht auch das kleinere Übel?

Dieser Frage ist mit einer entschiedenen Gegenfrage zu erwidern:

Hat tatsächlich eine zwingende Notwendigkeit bestanden, auf die Ostgebiete zu verzichten?

Sind die Hinweise auf die mehr oder weniger deutliche Nötigung durch die Sieger nichts weiter als durchsichtige Schutzbehauptungen?

Hatten wir Deutsche nicht aufgrund des überall in der Welt als oberstes Recht der Völker gefeierten Selbstbestimmungsrechts einen Anspruch, einen ganz selbstverständlichen und undiskutierbaren Anspruch auf die Zusammenführung West- und Mitteldeutschlands?

Einen Anspruch, der noch weit über demjenigen liegt, den heute die Esten, Letten, Litauer, Georgier, Slowenen oder Kroaten geltend machen und den unsere Politiker so lauthals unterstützen, als würden ihnen die Nöte und Interessen dieser Völker jene schlaflosen Nächte bereiten, die ihnen die Nöte und Interessen ihres eigenen deutschen Volkes ganz offensichtlich nicht bescheren und beschert haben.

Wo haben denn diese Politiker ein einziges Mal bei den Zwei- plus-vier-Verhandlungen offen und mit der Kraft, die jedem Staatsmann heutzutage der Besitz des Rechtsbewußtseins verleiht, darauf hingewiesen, daß die Forderung nach Erfüllung auch unserer Rechte kein Handelsgeschäft am Ladentisch ist und nichts mit Kauf und Bezahlung zu tun hat? Sowenig, wie sich politische Freundschaft kaufen läßt, auch nicht mit der Scheck- Diplomatie zu Lasten des deutschen Steuerzahlers, die sich bei uns in der letzten Zeit ebenso glatt wie anstößig entwickelt hat.

Eine der deprimierendsten Lehren aus den Verhandlungen während der Zwei-plus-vier-Gespräche – und ebenso im übrigen aus dem Golf-Krieg – ist die Tatsache, daß Deutschland und seine Regierung in die Knie gegangen sind, obwohl schon längst weder unsere sogenannten Freunde im Westen noch die Sowjetunion in der Lage sind, Deutschland wirklich in die Knie zu zwingen oder überhaupt nur einen Druck auszuüben, dem wir nachgeben müßten. Die Fähigkeit allerdings, das Rückgrat nicht zu krümmen, setzt das Vorhandensein eines Rückgrats voraus, oder weniger sour gesagt: setzt den politischen Entschluß voraus, deutsche Interessen angemessen zu vertreten – also genau das, was von jedem Minister bis hin zum Bundespräsidenten gemäß Artikel 56 unseres Grundgesetzes bei der Vereidigung verlangt wird: daß er nämlich seine „Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren und von ihm Schaden wenden“ werde.

Sämtliche Bonner Parteien hatten seit 1949 über Jahrzehnte hinweg immer wieder versichert, daß die deutschen Ostgebiete nach Anspruch und Völkerrecht Gebiete des Deutschen Reiches sind und bleiben würden – solange, bis ein Friedensvertrag mit dem Gesamtsouverän „Deutsches Reich“ abgeschlossen sei.

Das Bundesverfassungsgericht ist nicht müde geworden, durch seine Urteile aus den Jahren 1973, 1975 und 1987 diese Tatsache zu bestätigen und vor allem auch den politischen Auftrag dazu, der im Bonner Grundgesetz verankert ist, hervorzuheben.

Karlsruhe hat das schon 1956 in der Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der KPD erstmals formuliert. Auch unsere Parteien haben bis zum Ende der 60er Jahre unverbrüchlich an einem Deutschland festgehalten, das sich territorial mit den Grenzen des Deutschen Reiches deckte, festgehalten also auch an den Ostgebieten als integralen Bestandteilen Deutschlands. Sie haben diesen Anspruch insbesondere den Vertriebenen vor den periodischen Wahlen und mit unübersehbarer Feierlichkeit versichert.

Obgleich die Vertriebenen, wenn sie nüchtern und kritisch genug gewesen wären, ihr Mißtrauen hätten wachhalten müssen, hatten sie den Bonner Beteuerungen geglaubt. Erlauben Sie, daß ich Ihnen einige wenige Äußerungen aus früheren Jahren ins Gedächtnis rufe.

Am 6. Juli 1950 hatte das damalige SED-Regime mit Polen das Görlitzer Abkommen geschlossen, in dem die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze anerkannt wurde. Daraufhin erklärte der Abgeordnete Herbert Wehner am 14. Sep 1950 vor dem Bonner Bundestag:

„Das deutsche Volk sieht in derAnerkennung der Oder-Neiße-Linie,….in der Mißachtung des Schicksals und des Heimatrechtes der Vertriebenen Verbrechen an Deutschland und gegen die Menschlichkeit“.

Ein Jahr später, am 17. Aug 1951, bestätigte dasselbe der damalige Vorsitzende der Sozialdemokraten Kurt Schumacher in der Westberliner Messehalle – fast auf den Tag genau vier Monate nach dem Gründungstag der Kreisgruppe Bonn der Schlesischen Landsmannschaft. Schumacher sagte:

„Die deutsche Sozialdemokratie hat 1945 als erster Faktor Deutschland und der Welt erklärt: Die Oder-Neiße Linie ist unannehmbar als Grenze. Ich erkläre weiter: Keine deutsche Regierung und keine deutsche Partei kann bestehen, die die Oder-Neiße-Linie anerkennt. Wir lehnen es ab, uns in die Politik des National-Verrats und des Verrats an den Menschheits-Ideen durch die Kommunisten, durch die pseudobürgerlichen Satelliten in der Zone und durch die Sowjets verstricken zu lassen.“

Mit womöglich noch größerem Nachdruck versicherte im Juni 1963 der SPD-Vorstand in einem Schreiben an die Schlesier anläßlich ihres Deutschland-Treffens in Köln „Breslau, Oppeln, Gleiwitz, Hirschberg, Glogau, Grünberg, das sind nicht nur Namen, das sind lebendige Erinnerungen, die in den Seelen von Generationen verwurzelt sind und unaufhörlich an unser Gewissen klopfen. Verzicht ist Verrat.

Wer wollte das bestreiten. 100 Jahre SPD heißt vor allem 100 Jahre Kampf um das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Das Recht auf Heimat kann man nicht für ein Linsengericht verhökern. Niemals darf hinter dem Rücken der aus ihrer Heimat vertriebenen und geflüchteten Landsleute Schindluder getrieben werden. Der Wiedervereinigung gilt unsere ganze Leidenschaft. Wer an diesem Feuer sein kleines Partei-Süppchen zu kochen versucht, kann vor dem großen Maßstab der Geschichte nicht bestehen.“

Dieses Manifest trägt auch die Unterschriften Herbert Wehners und Willy Brandts. Im Jahr darauf, also 1964, als die SPD mit der neuen Visitenkarte einer nichtmarxistischen, betont demokratischen Volkspartei schon siegessicher auf dem Weg zu den Bonner Regierungssesseln einhermarschierte, hat Herbert Wehner nochmals beteuert:

„Die einseitige Grenzziehung entlang der sogenannten Oder- Neiße-Linie und die damit verbundene Annexion deutschen Gebiets ist für uns Sozialdemokraten nicht rechtskräftig.“

Vier Jahre später bemühte sich die SPD in der Großen Koalition mit Herbert Wehner an der Spitze des Ministeriums für gesamtdeutsche Fragen, die Weichen für ihre neue Ostpolitik zu stellen. Bei einem Treffen der Pommern in Köln hörte Wehner aufgebracht die Zwischenrufe, die ihn als „Verzichtspolitiker“ und „Landesverräter“ titulierten. Kurz darauf war die Politik der faktischen Anerkennung der DDR und damit die Politik der Zweistaatlichkeit Deutschlands beschlossene Sache. Und so konnte der Pole Janusz Stefanowicz, stellvertretender Chefredakteur der Wochenzeitschrift „Kultura“, am 13. Dezember 1970 kopfschüttelnd und doch überaus zufrieden schreiben:

„Als mich in Bonn der Minister für innerdeutsche Beziehungen, Franke, empfing, war ich geradezu überrascht von der Überzeugungskraft, mit welcher er bewies, daß sein Ministerium gänzlich aufgehört hat, sich mit Diskussionen über die Wiedervereinigung zu befassen, sondern seine ganze Tätigkeit darauf konzentriert, die Bürger der Bundesrepublik Deutschland mit der positiven Wahrheit über das Leben in der DDR bekanntzumachen.“

Nach der Unterzeichnung und Ratifizierung der Bonner Ostverträge 1971 konnte dieselbe Warschauer Wochenzeitschrift fast beglückt feststellen:

„Der gegenwärtige Stand der Dinge kennt nicht die Bezeichnung „Deutschland“ – eine Tatsache von großer Bedeutung. Deutschland als solches existiert nicht mehr.“

Hat sich in der Zwischenzeit das Recht verändert oder haben nicht vielmehr unsere Politiker ihr Verhältnis zum Recht geändert?

Wie steht es denn mit den Formulierungen in unserem Grundgesetz, was „Deutschland als Ganzes“ betrifft?

Spricht dieses Grundgesetz, wenn es von Deutschland spricht, nur von West- und Mitteldeutschland’?

Wo war eine einzige Stimme von den das Wort zu beredt im Munde führenden Politikern im Jahre 1990 zu hören, wie es denn mit dem Völkerrecht stehe, das sie vorher so oft beschworen hatten? Und Sie kennen auch den besonders einfachen Kommentar, der von unseren Abgeordneten und ungezählten Medienleuten zu der Zwei-plus-vier-Regelung und dem Verzicht auf die Ostgebiete abgegeben worden ist.

Dieser Kommentar zeichnete sich nicht nur durch die Kürze aus, sondern auch durch seine Einfalt, um nicht zu sagen durch seinen Stumpfsinn: Deutschland habe nun einmal den zweiten Weltkrieg verloren – damit basta. Der Verlierer habe zu zahlen. Kein Mensch kann und wird bestreiten, daß wir beide Weltkriege dieses Jahrhunderts militärisch verloren haben.

Was aber folgt aus dieser Tatsache? Gerade diejenigen, die Deutschland besiegt haben, sind doch ausdrücklich im Zeichen des Kampfes gegen Unrecht, also für das Recht angetreten, im Zeichen der Wahrung von Menschenrechtsnormen, im Zeichen des christlichen Kreuzes, dem Schutz der Menschenrechte und des Völkerrechtes angetreten, zumal die Westalliierten. Es sei an die pseudo-religiöse Atlantik-Charta vom 14. Aug 1941 erinnert, in der von den Vereinigten Staaten und Großbritannien die Grundzüge der künftigen Weltordnung festgelegt wurden.

Dazu gehörte, wie sich wörtlich nachlesen läßt, daß in Zukunft „territoriale Veränderungen nur noch aufgrund des Selbstbestimmungsrechtes der Völker“ möglich sein würden. Die Kriegsalliierten sind also gegen Deutschland nicht angetreten im Zeichen des Faustrechts aus der Steinzeit. Denn auch der militärisch besiegte Staat wird durch die Niederlage nicht rechtlos. Uns ohne Wenn und Aber die Ostgebiete zu rauben, ist nicht Völkerrecht, sondern steinzeitliches Faustrecht.

Wer der Meinung ist, man solle wegen eines Schlußstrichs unter die bisherige Geschichte und um eines Neubeginns willen kein Wort mehr über die Annexionen verlieren und endlich über das Verbrechen der Vertreibung schweigen, der schafft hinsichtlich der Mißachtung des Völkerrechts einen Präzedenzfall, der auch in Zukunft jede Vertreibung von Menschen und den Raub fremden Staatsgebietes rechtfertigt. Wegen eines derart krassen Verstoßes gegen das Völkerrecht wurde erst kürzlich der Golfkrieg geführt. Wenn wir die Austreibung von nahezu 15 Millionen Deutschen nach 1945 rückwirkend billigen, was berechtigt uns dann zur Empörung über die bestialische Austreibung und Ermordung der Kurden? Und was die Frage angeht, wer für einen verlorenen Krieg zu bezahlen hat, wer also den Verzicht auf die ostdeutschen Gebiete als „bitteren Preis“ für die Zusammenführung West- und Mitteldeutschlands bezeichnet, der muß sich daran erinnern lassen, daß in einem solchen Fall ganz Deutschland und jeder Deutsche den Preis zu erbringen hat und gerade nicht ausschließlich die Vertriebenen, deren Schicksal im Grund nur derjenige begreifen und ganz erfassen kann, der ein ähnliches Schicksal durchgemacht hat.

Noch etwas kommt hinzu. Die Sieger hatten den Deutschen 1945 und ungezählte Male danach versichert, daß sie nicht als Befreier, sondern eben als Sieger gekommen wären. Deshalb wurde auch die Besatzungszeit mit den bewußt kargen Lebensmittelmarken, den Demütigungen und der politischen Entrechtung, den Reparationen, der Demontage der nach dem Bombenkrieg übriggebliebenen deutschen Industrie, der Wegnahme deutscher Patente und deutschen Vermögens im Ausland, sowie den Entschädigungszahlungen in vielfacher Milliardenhöhe immer wieder auch damit begründet, daß wir den Krieg verloren hätten.

Man könnte eine überlange Liste aufstellen, wie oft wir in den letzten vier Jahrzehnten daran erinnert wurden, daß wir ja den Krieg verloren hätten, und deshalb seien wir zu dem oder dem verpflichtet. Nicht zuletzt wurde schließlich auch die Zweistaatlichkeit Deutschlands seit dem Abschluß der Ostverträge durch die sozial-liberale Regierung Brandt/Scheel und der schweigenden Billigung durch die nach Westen hin ausgerichteten Unionsparteien – wurde also auch die abgesegnete Zweistaatlichkeit BRD und DDR zu einer Konsequenz des verlorenen Krieges erklärt. Mit den Worten von Herrn Egon Bahr:

„Die deutsche Zweistaatlichkeit ist die Basis des Friedens in Europa“ bis hin zu der Feststellung Willy Brandts, daß die Wiedervereinigung die Lebenslüge der Bundesrepublik sei. Es ist leicht vorauszusehen, daß wir auch in den kommenden Jahren immer wieder dazu angehalten werden und uns dazu anhalten lassen, dieses oder jenes zu tun oder dazu verpflichtet zu sein, „weil wir den Krieg verloren hätten“.

Wie oft ist der Zweite Weltkrieg von uns noch zu verlieren? Die Realität, in der wir leben, in erster Linie die politische Realität, ist voller Gnadenlosigkeit und Härte. Wir haben das in unserem Jahrhundert bis an die Grenze des Erträglichen und Zumutbaren erfahren. Wir haben es durchgestanden. Wir haben es auch überstanden. Doch was uns noch weit mehr zusetzt und buchstäblich in die reine Verzweiflung und damit in die Selbstaufgabe treiben könnte, das ist das Zurückweichen vor der Realität mit Hilfe der Doppelzüngigkeit und der politischen Lüge.

Bei diesem Verfahren wird das Unrecht, die Erpressung, die Drohung, der blanke Zwang als Recht ausgegeben und wir sollen dazu auch noch mit dem Kopf nicken. Um nichts anderes handelt es sich bei dem Modus, wie die deutschen Ostgebiete losgeschlagen wurden: als hätten die Sowjetunion und Polen einen Rechtstitel auf die deutschen Territorien, und von uns erwartet man jetzt auch noch eine Entschuldigung dafür, daß wir überhaupt jemals einen Anspruch auf Ostpreußen, Pommern, Schlesien, das Sudetengebiet geltend gemacht haben.

Nichts anderes klang doch in den vielen Wendungen an, bei denen vorbereitend von deutschen Politikern immer wieder versichert wurde, wir hätten keine Gebietsansprüche an Polen. Wir hatten tatsächlich keine. Wir wollten niemals polnische Gebiete. Wir wollten lediglich unsere deutschen Gebiete.

Gebietsansprüche hatten die Polen und Russen. Da ihre Forderung rechtlich nicht begründet werden kann, handelt es sich um Gebietsraub aufgrund des Siegerrechts. Wir sollten uns zu gut sein, diesen Raub nicht als Unrecht zu bezeichnen, und auch noch Polen und der Sowjetunion bescheinigen, daß diese Annexion rechtens sei, es sich also nicht um Unrecht, sondern um Recht handeln würde. Bis heute hat die Feststellung des Alterspräsidenten des Bonner Bundestages, des Sozialdemokraten Paul Löbe, in der Sitzung vom 13. Juni 1950 nichts an Gewicht verloren:

„Niemand hat das Recht, aus eigener Machtvollkommenheit Land und Leute preiszugeben oder eine Politik des Verzichts zu betreiben. Die Regelung dieser wie aller Grenzfragen kann nur durch einen Friedensvertrag erfolgen, der von einer demokratisch gewählten deutschen Regierung als Vertrag der Freundschaft und der guten Nachbarschaft mit allen Nationen baldigst beschlossen werden muß.“

Haben die deutschen Politiker der Zwei-plus-vier-Gespräche als Repräsentanten Deutschlands, als Repräsentanten des Deutschen Reiches sich an die zwingenden Normen des Völkerrechts gehalten und im Zeichen dieses Rechts auf die Ostgebiete verzichtet, oder haben Sie – wie es Paul Löbe 40 Jahre vorher bezeichnete – „aus eigener Machtvollkommenheit Land und Leute preisgegeben und eine Politik des Verzichts betrieben“?

Eine so unmißverständliche Frage könnte von diesen Politikern nur dann ebenso unmißverständlich beantwortet werden, wenn sie in der Lage wären zu zeigen, welcher Unterschied zwischen den Normen des Völkerrechts im Jahre 1950 und denjenigen des Jahres 1990 besteht. Das aber ist ihnen nicht möglich, denn es gibt diesen Unterschied nicht. Was 1950 Recht und Unrecht war, das war auch 1990 Recht und Unrecht – und dies ist es auch heute, an diesem Tag. Die Grenzregelung der Zwei-plus- vier-Verhandlungen hat alle feierlichen Erklärungen sowohl der Westalliierten als auch der Bonner Regierungen seit 1949 hinweggewischt.

Deutschland hat also keinen Friedensvertrag, sondern ein Grenzdiktat. Bedrückend bis zur Unerträglichkeit ist die doppelte Moral, die sich hier Ausdruck verschafft. Unsere Regierungen bis hin zur präsidialen Spitze werden nicht müde, sofort mit den feierlichsten, mit wahrhaft gesalbten Worten aktiv zu werden, wenn zu befürchten ist, daß irgendwo auf der Welt Menschenrechte verletzt werden und das Völkerrecht einen Kratzer erhalten könnte. Sie setzten sich mit verbaler Wucht für die Rechte der Palästinenser, der Kuwaitis, der Farbigen in Südafrika, der Esten, Letten und Litauer und zur Zeit für die Rechte der gejagten und geschundenen Kurden ein. Ob man will oder nicht, stellt sich dabei zwangsläufig die Frage, ob denn das Heimatrecht, die Minderheitenrechte für uns Deutsche nicht genauso beschaffen sind wie bei den anderen verfolgten Minderheiten. Oder gelten diese Rechte für uns deshalb nicht, „weil wird den Krieg verloren haben“?

Darf man sie deshalb mit Füßen treten? Die Südtiroler kämpfen seit dem Ersten Weltkrieg durch das ganze 20. Jahrhundert um ihre Rechte als einer deutschen Minderheit. Für unsere Offiziellen handelt es sich aber nicht um Deutsche, sondern um Italiener, die sich unverständlicherweise nicht dazu bequemen wollen, Italiener zu werden. Seit dem 19. Jahrhundert, als sich in Europa die Völker politisch als Nationen zu formieren begonnen haben, war das Problem der nationalen Staaten immer auch das Problem ihrer nationalen Minderheiten.

Ein klassisches Beispiel dafür war nach dem Ersten Weltkrieg die Gründung der Tschechoslowakei mit ihren vielen Minderheiten.

Ebenso wurde damals aus der Masse der zerschlagenen Habsburger Monarchie der neue Staat Jugoslawien geschaffen, gleichfalls ein Kunststaat, dessen Zerfall in seine nationalen Volksgruppen wir zur Zeit studieren können. Deshalb gehört es zu den Hauptaufgaben der Landsmannschaften, sich für den Schutz und die Rechte der deutschen Minderheiten, die in den Ostgebieten noch leben, bedingungslos einzusetzen, – auch wenn von einflußreichen polnischen Kreisen aus durchsichtigen Gründen noch immer versucht wird, die Existenz von Deutschen in den annektierten Gebieten zu bestreiten. Das Jahr 1945 hat uns Deutschen eine neue, spezifische Erfahrung beschert: die Existenz von deutschen Minderheiten in Deutschland selbst.

Die Millionen Deutschen, die aus ihrer Heimat vertrieben worden sind, haben in den übrigen Ländern des Deutschen Reiches seßhaft werden und versuchen müssen, hier mit ihrem Schicksal fertig zu werden. Ihre Heimat ist ihnen zwar geraubt worden, sie sind deswegen aber trotzdem Schlesier, Ost-preußen, Pommern geblieben, daß heißt: Sie haben ihre Geschichte, ihre Überlieferungen und Bräuche, ihre Kultur mitgebracht, sie haben ihre besondere Identität nicht aufgegeben. Der Sinn und die Aufgabe der dann gegründeten Landsmannschaften hat darin bestanden, außerhalb der geraubten Heimat sich selbst zu bewähren, und zwar sowohl individuell, als Einzelperson, als auch als Volksgruppe.

Daß die Landsmannschaften gleichzeitig im Dienst des Rechtsanspruchs auf die Heimat arbeiteten, deckte sich vollständig mit dem Willen aller Deutschen – jedenfalls derjenigen Deutschen, die in dieser Hinsicht relativ frei ihren Willen haben bekunden können – nämlich hier in der Bundesrepublik. Einen unübersehbaren Ausdruck hat dies in der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ vom 5. Aug 1950 gefunden, also ein dreiviertel Jahr vor der Gründung der Kreisgruppe Bonn der Landsmannschaft Schlesien. Die meisten von Ihnen kennen den Inhalt dieser „Charta“.

Mit am erstaunlichsten an diesem Dokument ist der Umstand, daß bis heute kein Wort des Textes an Bedeutung verloren hat. Und das heißt auch, daß das Gewicht und die Arbeit der Landsmannschaften der Vertriebenen nichts an Bedeutung verloren hat. Seit alters besteht ein hochkompliziertes Spannungsverhältnis zwischen Politik und Recht, genauer: zwischen der politischen Macht und dem Recht. Diese Beziehung wird sich niemals entsprechend der einfachen Formel entschärfen lassen, daß die Macht und der politische Entschluß bedingungslos im Dienst des Rechts zu stehen hat. Wir würden uns aber die Fundamente des politischen Handelns heillos zerstören, wenn wir uns den Diktaten der Macht und dort nur andeutungsweise beugen würden, wo die Macht so offensichtlich und ohne zwingende Not das Recht ignoriert, wie es bei dem Entscheid über die deutschen Ostgebiete der Fall war.

Hier liegt eine der künftigen Hauptaufgaben der Landsmannschaften. Vor wenigen Jahren hat eine unnötige Kurzformel viel ebenso unnötigen Staub aufgewirbelt. Das Motto „Schlesien bleibt unser“.

Lassen wir einmal die Frage beiseite, ob wir nicht alles in allem in Sachen politischen Takts und besorgter Zurückhaltung inzwischen die Musterknaben Europas sind. Wenn man die Mißtöne zusammenfaßt, die im Ausland bei allen möglichen Gelegenheiten „über die Deutschen“ zu hören sind, ergibt sich ein erstaunliches Konzert, eine wahre Symphonie politischer Katzenmusik. Doch um beim Takt zu bleiben: die Lage ist zur Zeit so, daß es aufgrund etlicher Passagen in den Verträgen, die 1990 geschlossen wurden, keineswegs mehr dienlich ist, in einem territorialen Sinn und mit einem Anklang von aktuellen Ansprüchen von den „deutschen Ostgebieten“ zu sprechen. Sonst käme man in den Verdacht, die anvisierte europäische Friedensordnung zu gefährden.

Doch in die Verträge des Jahres 1990 konnte nichts von dem aufgenommen werden, was zur jahrhundertealten Geschichte, zur Tradition, zur Kultur der deutschen Ostgebiete zählt. Und exakt in dieser Hinsicht bleibt Schlesien tatsächlich „unser“, bleibt Ostpreußen und Pommern, bleibt das Sudetenland „unser“. Diese Gebiete gehören constituent zum Selbstverständnis des deutschen Volkes, sie gehören zu unserer Herkunft und deshalb auch zu unserer Zukunft. Hier liegt die wichtigste Aufgabe der Landsmannschaften – eine unersetzliche Aufgabe: Sie haben dasjenige, was so blaß und abstrakt als Kulturerbe bezeichnet wird, nicht als museales Bemühen der Konservierung zu verstehen, sondern als ein Politikum und einen unverzichtbaren Bestandteil des Fundaments unserer Demokratie. Wer nicht auch künftig unsere Ostgebiete als uralten deutschen Siedlungsraum innerhalb Europas betrachtet, wertet und würdigt, hat keine Ahnung vom Inhalt eines der zentralsten Begriffe unserer Zeit: dem Selbstbestimmungsrecht.

Wie nötig in diesem Punkt unsere Unbeirrbarkeit ist, dafür gibt es inzwischen ausreichende Beispiele. Es sei nur an die, milde gesagt, Stillosigkeit erinnert, mit der Frau Süßmuth vor kurzer Zeit in Warschau den Polen zusicherte, die staatliche Förderung der Vertriebenenverbände zu überprüfen, Es klingt recht gut, wenn CSU- Generalsekretär Erwin Huber bei dieser Gelegenheit aufgebracht versicherte, daß durch die Stärkung von Vorurteilen gegen die Vertriebenen-Verbände „deren große demokratische Leistung herabgesetzt“ und „das Vertrauen vieler Vertriebener in die CDU erschüttert “ werde.

Ein solcher Hinweis war um so nötiger, als diesem Vertrauen im Jahre 1990 mehr abverlangt wurde, als die Vertriebenen aufgrund ungezählter gegenteiliger Versicherungen der Bonner Regierungen hatten erwarten dürfen. Der Fall Süßmuth ist nicht nur ein Exempel für politische Ignoranz, sondern ebenso ein Exempel für fehlendes Selbstbewußtsein. Dies liegt auf derselben Linie der seltsam prompten, offiziösen und von den Medien sofort akzeptierten Sprachregelung, die frühere DDR nicht mehr als Mittel-, sondern als Ostdeutschland zu bezeichnen. Geographisch mag das im Zeichen des Verzichts auf die deutschen Ostgebiete stimmen. Doch nur in diesem Zeichen.

Territorien kann man rauben. Man kann auf sie verzichten und sie abtreten, ob mit oder ohne Recht. Man kann sie aber nicht historisch ändern. Die Russen werden den Norden Ostpreußens auch nach Jahrzehnten nicht in russische Erde verwandeln, die Polen nicht dasselbe mit ihren Gebieten, die Tschechen nicht mit dem Sudetenland. Wie will man denn sinnvoll Geschichte betreiben, darstellen und unterrichten, wenn man Königsberg, die Stadt Immanuel Kants und der Krönung von Kurfürst Friedrich III. zum König in Preußen am 18. Januar 1701, wenn man also Königsberg nicht mehr als Königsberg, sondern als Kaliningrad bezeichnet?

In exakt dieser Hinsicht bleibt Ostpreußen „unser“ als Land des Deutschen Ordens, der Ostkolonisation, das Land Agnes Miegels. So wie Schlesien unser bleibt als Land von Andreas Gryphius, Eichendorff und Gerhart Hauptmann. Die heutige Situation der Landsmannschaften ist schwerer denn je. Wer aber der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit das Wort redet, begibt sich freiwillig, ohne Zwang, entscheidender Rechte und verzichtet auf seine besten Möglichkeiten. Es sind nicht einklagbare Rechte, deshalb kann sich auch nur derjenige dagegen vergehen, dem sie gehören. Es handelt sich nämlich um unser Recht auf unsere Geschichte, unsere Abkunft, unsere Lieder und Traditionen, unsere Heimat. Ob das den Russen, Polen, Tschechen oder gar Frau Süßmuth gefällt oder nicht, spielt keine Rolle.

Die Arbeit, die Pflege desjenigen, was wir – farblos genug – Kulturgut nennen, ist im übrigen auch paradigmatisch für diejenigen, die nicht erfahren haben, was es wirklich heißt, Heimat zu besitzen – weil sie die Erfahrung des Verlustes der Heimat nicht durchmachen mußten. Gott bewahre sie davor. Gott bewahre aber auch uns Vertriebene vor der Rückgratlosigkeit, uns von Ratschlägen und Empfehlungen derjenigen abhängig zu machen und uns davon korrumpieren zu lassen, die nicht wissen, daß das Vaterland Deutschland auf der Grundlage seiner Volksstämme und deren Mutterboden bestanden hat, besteht und auch in Zukunft nur so bestehen wird. Die Vertriebenen sollten sich deshalb von allen Anwandlungen des Selbstmitleids, der – wenn auch noch so berechtigten – Enttäuschung oder gar Verzweiflung freihalten, sich nicht als die „Parias“ Deutschlands, als die Kaste der Ausgestoßenen verstehen, wie es BdV- Präsident Herbert Czaja im vergangenen März formuliert hat.

Jeder einzelne Vertriebene, dem das Wort Heimat noch etwas bedeutet, sollte sich vielmehr als ein Mensch verstehen, der wie kein anderer weiß, daß Heimat nicht nur aus dem Stück Erde besteht, auf dem man wohnt, sondern aus der Bindung und dem Schicksal von Jahrhunderten. Halten wir auch in den kommenden Jahrzehnten daran fest. Niemand wird uns diese deutsche Heimat nehmen können, es sei denn, wir verzichten selbst darauf. Politische Verträge sind die eine Seite unseres politisch- gesellschaftlichen Daseins. Die andere Seite sind die historischen Tatsachen, die mit einer gestorbenen Vergangenheit durchaus nichts zu tun haben. Würden wir jetzt damit beginnen, die deutschen Ostgebiete aus unserer Geschichte und damit aus unserem Gedächtnis zu löschen, so würden wir einer Orientierungslosigkeit das Wort reden, die einer Vernichtung unserer Selbstachtung gleichkäme.

Landraub und Annexion sind auch in Zukunft möglich. Menschen und ganze Völker können aus ihrer Heimat verjagt werden, wie wir zur Zeit im Nahen Osten erleben. Aber niemand kann uns aus unserer Geschichte austreiben, uns aus ihr verjagen. Niemand kann sie uns wegnehmen. Das können nur wir selbst. Wenn das aber jemand von uns unternimmt, dann muß er wissen, daß er nicht nur sich selbst, sondern auch andere um die Heimat bringt. Politisch würde es sich um einen Menschen handeln, der in eigener Regie sowohl Verjagter als auch sein eigener Austreiber ist – und dies gehört zu den verwunderlichsten Phänomenen, die wir im Zusammenhang mit der Einschätzung der Landsmannschaften und ihrer Arbeit durch zahlreiche Politiker und Kommentatoren zur Zeit studieren und bestaunen können.

Als Deutsche, als Volk der Deutschen und als Volksgruppen der Vertriebenen waren wir seit 1945 nicht Herr unserer politischen Entschlüsse. Die größte Gefahr in den letzten 40 Jahren bestand darin, das Anomale, Widersinnige, Verbrecherische nur deshalb für normal zu halten und es als normal zu erklären, weil es sich nicht ändern ließ und weil es schließlich Jahrzehnt für Jahrzehnt anhielt. In dieser Lage hat uns nur unsere Geschichte helfen können, gerade deshalb, weil es keine einfache, bequeme Geschichte ist, bis an den Rand gefüllt mit Triumphen und Katastrophen. Geschichte freilich ist nur unter der Voraussetzung hilfreich, daß wir die Kraft und Energie aufbringen, uns auf unsere eigenen Maße und Verbindlichkeiten, auf unser Eigentümliches zu besinnen und versuchen, überall dort, wo es möglich ist, etwas davon so zu verwirklichen, daß ein Stück unserer besonderen Lebensform sichtbar wird. Unsere Möglichkeiten und unsere Hoffnungen liegen enger beieinander als wir normalerweise aufgrund der vielen Enttäuschungen in unserem persönlichen Leben annehmen, und die wir in einer Art Notwehr als „Lebenserfahrungen“ bezeichnen.

Wenn wir aber dem Bekenntnis zu uns nicht ausweichen, wird es sich zeigen, daß die von uns bewahrte und eben dadurch lebendig gebliebene Geschichte auch das entscheidende Unterpfand für die Einheit unseres Volkes bleibt und für die innere Einheit und Geschlossenheit jenes Deutschlands, das einmal als Deutsches Reich bezeichnet worden ist. Auch das Widersprüchliche und miteinander unverträglich Scheinende besitzt über die Jahrhunderte hinweg doch etwas Aktuelles, Gegenwärtiges, Zusammengehöriges. Das wird deutlich, wenn wir daran denken, daß ein Gutteil der deutschen Ostgebiete vor vielen Jahrhunderten von Deutschen besiedelt, urbar gemacht, erschlossen wurde, von Deutschen, die aus der Heimat fortgezogen waren, weil sie in fremdes, leeres Land gerufen wurden. Sie haben damals neue Heimat geschaffen, und sie wurden in diesem Jahrhundert aus dieser Heimat vertrieben. So sind sie wieder in die alte Heimat zurückgekommen – und sie halten die Heimat, hier wie dort, solange am Leben, solange sie von ihrer Geschichte wissen und sich zu ihrer Geschichte bekennen.

Diese Schrift wurde herausgegeben von der Landsmannschaft Schlesien Kreisgruppe Bonn, Postfach 12 06 22, Bonn Zum Thema DEUTSCHER OSTEN www.deutscherosten.de/www.deutscherosten.de zum VÖLKERRECHT: www.deutscherosten.de/DasausgefuehrteVoelkerrecht.htm